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Einschätzen des Risikos an einer Beispielmaschine

Aktualisiert: 7. Juni 2023

Drittes Video der Serie "Risikobeurteilung für Konstrukteure"


Im letzten Video ging es um den Risikograf und wie man ihn benutzt.

Heute geht es darum, wie man die Entscheidung zu den vier Größen trifft, die man im Risikograf benutzt, also zu Schwere, Aufenthaltsdauer, Eintrittswahrscheinlichkeit und der Möglichkeit der Vermeidung.


Die Einschätzung ist immer subjektiv. Sie werden also nicht immer mit meiner Meinung übereinstimmen, aber ich möchte es trotzdem wagen, hier an einem Beispiel zu zeigen, wie man es machen könnte.

Ich will also das Beispiel vom letzten Mal genauer beleuchten. Sie erinnern sich wahrscheinlich.



Hier soll ein Deckel aufgesetzt und verriegelt werden. Der Deckel wird maschinell aufgesetzt. Um das Verriegeln zu vereinfachen, wird maschinell Druck auf den Deckel gegeben. Der Bediener verriegelt den Deckel dann über die Bügel seitlich. Es existiert eine Quetsch- oder Scherstelle zwischen Deckel und Kiste. Es gibt noch andere Gefahrenstellen, aber wir betrachten jetzt nur die eine.


Es geht zuerst um die Schwere der möglichen Verletzung. Ich verwende wieder den Risikografen von Docufy, weil er bei der Schwere dieselbe Unterscheidung wie das Performance-Level verwendet. Die wesentliche Unterscheidung ist zwischen reversibler und irreversibler Verletzung.



Man stellt sich also vor, wie so ein Unfall konkret aussehen könnte. Der Bediener hat den Finger an der vorderen Kante der Kiste. Der Deckel senkt sich auf den Finger. Auf den Deckel wird Kraft ausgeübt. Im ungünstigsten Fall kann der Finger, wenn er zwischen Deckel und Kiste ist geschert werden, was wahrscheinlich eine irreversible Verletzung – also S3 - herbeiführen würde. Ich denke, der Finger könnte nicht wieder geheilt werden, die Fingerkuppe müsste amputiert werden. Das kann man als Ausgangslage ohne Risikominderung nehmen. Aber S3 kann nicht stehen bleiben, man muss sich um eine Minderung des Risikos kümmern.


Zur Risikominderung bezüglich der Schwere kann man nun die Kraft auf den Finger verringern. Bei der Maschine wurde das getan, indem die Kraft zum Herunterdrücken des Deckels erst einsetzt, wenn der Deckel schon in der Kiste ist. Davor wirkt nur die Kraft, die beim Absenken des Deckels entsteht. Evtl. könnte dadurch die Schwere auf S2, also reversible Verletzung verringert werden.

In der Risikobeurteilung könnte das dann so aussehen.





Aber das ist nur ein konstruiertes Beispiel. Die Realität sah anders aus. Was hier nicht zu sehen war, ist dass die Maschine mit dem Oberschenkel durch eine Druckplatte bedient wird.



Da der Bediener selbst die Druckplatte bedient, muss er weiter auf die Platte drücken, obwohl er sich schon beachtlich weh tut, weil er den Finger in der Gefahrenstelle hat. Es ist nicht denkbar, das dies bis zum Abscheren des Fingers führt. Sobald es weh tut, hört er auf zu drücken. Das reale Szenario führt also zu S2 – schwere reversible Verletzung und nicht zu S3 – irreversible Verletzung. Vielleicht könnte man sogar auf S1 plädieren.


Was könnte noch passieren, was mein erstes Szenario verschlimmert? Der Bediener könnte aus irgendeinem Grund, wenn er den Finger in der Gefahrenstelle hat das Gleichgewicht verliert und gegen die Druckplatte stoßen. Für den Fall ist durch die Geschwindigkeit der Maschine sichergestellt, dass es nicht zum Abscheren des Fingers kommt. Man könnte dieses Szenario extra betrachten und hier die Geschwindigkeit des Absenkens des Deckels als Risikominderung eintragen. Das würde man insbesondere dann tun, wenn man sich gerade um diese Geschwindigkeit besondere Gedanken gemacht hat. Ich tue das jetzt nicht und bleibe bei S2. Ich betrachte das Szenario deshalb nicht weiter, es ist durch das erste Szenario mit abgedeckt.


Ich habe mich also in meinem Szenario, dass der Bediener sich den Finger zwischen Deckel und Kiste einklemmt für S2 entschieden als Schwere der möglichen Verletzung ohne Risikominderung.

Ich würde dann gleich Finger/Hand in der Risikobeurteilung eintragen, weil das für die Bewertung keinen Unterschied macht und der Bediener ja genauso die ganze Hand in der Gefahrenstelle haben könnte.



Die nächste Größe ist die Aufenthaltsdauer im Gefahrenbereich. Die ist hier sehr eindeutig. Der Bediener steht permanent an der Maschine, also A3.



Und nun die Eintrittswahrscheinlichkeit

Wir haben hier die Wahl zwischen:

  • fast unmöglich

  • unwahrscheinlich bis vielleicht

  • sehr wahrscheinlich

  • sicher, ohne Zweifel

Fast unmöglich verwendet man häufig, wenn zwei unnormale Situationen zusammen treffen müssen, damit das Szenario entsteht, also mein zweites Szenario, dass jemand in den Gefahrenbereich greift und gleichzeitig gegen die Druckplatte stößt, wenn diese beiden Ereignisse unabhängig voneinander wären. In meinem Fall könnte aber der Schmerz dazu führen, dass man mit dem Knie gegen die Druckplatte stößt.


Für das den Finger ganz normal zwischen Deckel und Kiste bekommen und sich dort zu quetschen, habe ich nun die Wahl zwischen

  • fast unmöglich,

  • unwahrscheinlich bis vielleicht und

  • sehr wahrscheinlich

wahrscheinlich gibt es nicht. Ich würde hier sehr wahrscheinlich ausschließen, weil die Gefahrenstelle sehr deutlich erkennbar ist. Keiner hält hier absichtlich seinen Finger rein und eigentlich müssen die Hände sowieso seitlich an den Bügeln sein.

Die zweite Frage die hier eine Rolle spielt ist die Frage, gäbe es einen Grund hier seinen Finger reinzuhalten. Diese müsste hier mit ja beantwortet werden. Wenn ein kleines Bröckchen des Inhalts auf dem Rand liegt, wäre das als Reflex – ich schieb das schnell noch in die Kiste - denkbar. Insbesondere dann, wenn man die Geschwindigkeit des Absenkens des Deckels unterschätzt oder was eher bei einem geübten Bediener vorkommt, die eigene Geschwindigkeit überschätzt. Fast unmöglich ist damit nicht mehr denkbar. Und dazu kommt, dass man den Finger leicht dort hin bekommt. Es ist nicht irgendwo hinten ein kleines Loch in der Maschine, in dem kein Finger was zu suchen hat. Man könnte sogar aus Unachtsamkeit gerade den Finger vorn auf der Kante der Kiste haben. So bleibt aus meiner Sicht nur "unwahrscheinlich bis vielleicht" als sinnvolle Einschätzung.



Und als letztes Möglichkeit der Vermeidung:

  • M1 möglich durch Reflex

  • M2: nicht möglich

Hier würde ich davon ausgehen, dass man noch wegzucken kann und deshalb M1 wählen. Die Möglichkeit der Vermeidung ist davon abhängig, ob ich die Gefahr bemerken kann, die herannaht und von der Geschwindigkeit mit der die Gefahr herannaht. Außerdem spielt hier mit rein, ob ich genug Platz habe, um wegzuzucken.


Wir kommen also auf R6



Das Risiko sich zwischen Deckel und Kiste die Hand einzuklemmen kann nicht als geringfügig vernachlässigt werden. Es ist ein mittleres Risiko und es müssen besondere Überlegungen angestellt werden, um dieses Risiko zu verringern. Eine schwere Verletzung S2, die vielleicht eintreten kann – das kann so nicht bleiben.



Typischer erster Gedanke? Da machen wir eine Verschutzung dran!

OK, dann kommt der Elektrokonstrukteur und bestimmt das Performance Level. In einem der nächsten Videos gehe ich da genauer drauf ein.

Bei einer reversiblen Verletzung komme ich da auf PL b. Hätte ich eine irreversible Verletzung käme ich allerdings schon auf PL d. Deshalb ist mir der Unterschied zwischen schwerer reversibler Verletzung und schwerer irreversibler Verletzung so wichtig.

Also machen wir eine Verschutzung als Risikominderung dran. Was ändert sich dadurch in der Risikobetrachtung. Wenn ich die Verschutzung richtig dimensioniere und Manipulation ausschließen kann, ist das Restrisiko 0 und die Betrachtung für diese Gefahrenstelle kann abgeschlossen werden.

Aber kann ich in diesem Fall Manipulation ausschließen? Mit viel Aufwand vielleicht, aber es wird schwierig, denn der Arbeitsablauf würde durch die Verschutzung stark behindert. Wenn dem so ist, verringert sich durch die Verschutzung nur die Eintrittswahrscheinlichkeit auf fast unmöglich. Fast unmöglich nehme ich immer, wenn extra Schutzeinrichtungen außer Kraft gesetzt werden müssen, um den Unfall zu ermöglichen. Damit ergibt sich R4 und wir sind im Bereich "geringes Risiko". Das ist OK.

Wenn ich von S3 ausgegangen wäre, würde ich mit der Verschutzung nicht aus dem Bereich "mittleres Risiko" rauskommen – ich wäre immer noch bei R5.


Aber es gibt zum Glück bessere Lösungen. Eigentlich wöllte ich die Schwere verringern auf eine leichte Verletzung oder ich wöllte die Eintrittswahrscheinlichkeit auf unmöglich haben. Dann hätte ich Restrisiko 0.

Man muss also anderweitig sicher stellen, dass der Bediener auf keine Fall den Finger zwischen Kiste und Deckel hat, wenn der Deckel sich nach unten bewegt. Der Hersteller hat hier eine einfache Lösung gefunden. Die seitlichen Bügel wurden so angebracht, dass sie senkrecht nach unten hängen und das Aufsetzen des Deckels unmöglich machen, wenn man sie nicht zur Seite weghält. Damit müssen beide Hände wirklich dort sein, wo sie sein sollen, nämlich seitlich an den Bügeln. Wenn der Finger zwischen Deckel und Kiste ist, kann der Deckel nicht auf der Kiste aufsetzen.



Eine schöne konstruktive Lösung, die zu Restrisiko 0 für die betrachtete Gefahrenstelle führt.


Diesen Blogbeitrag gibt es auch als Video. (ab 08.05.23)




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